Genau hier und ganz woanders
Zu den Zeichnungen von Richard W. Allgaier 2019
Als Künstler ist Richard W. Allgaier Bildhauer, Zeichner und Maler, also einer, der sich umfassend mit dem beschäftigt, was bildhafte Kunst ist. Ich lasse in diesem Text einmal die räumlichen und plastischen Künste beiseite und betrachte diejenigen Bilder, die auf einer Fläche ausgeführt werden: die Malerei und vor allem die Zeichnung.
Es ist gut möglich, dass beide schon entstanden, als irgendein Mensch vor sehr langer Zeit erstmals die Möglichkeit entdeckte, ein inneres Bild zu sehen und darüber hinaus einen irgendwo entstandenen zufälligen Fleck als ein Abbild, zum Beispiel eines Tieres, zu erleben.
Gezeichnete und gemalte Bilder sind also eng damit verknüpft, was es uns möglich macht, uns Bilder vorzustellen und damit Phantasien für die Zukunft zu haben oder Erinnerungen an die Vergangenheit in unser Bewusstsein zu heben.
Schon hier sieht man, warum für Richard Allgaier, dem gesehene Bilder so wichtig sind, das Zeichnen eine so bedeutsame und umfangreich ausgeübte Beschäftigung ist.
Denn Richard Allgaier ist ein ausdauernder und erfahrener Reisender auf der ganzen Welt. Das Reisen bedingt aber ein unentwegtes Ankommen und Abfahren, Begegnen und Verlassen, Hin- und Wegsehen.
Wenn all das auf Reisen Gesehene nicht langsam (oder schnell) dem Vergessen preisgegeben werden soll, dann müssen wir unserer Erinnerung Pfade anbieten und Erinnerungsmale schaffen, um ihr damit das Wieder-Holen von besonderen Augenblicken und Orten zu ermöglichen.
Zeichnen ist da eine besondere Möglichkeit, den Dingen Raum und Fläche zu geben und ihnen die verrinnende Zeit zu nehmen.
All das, was der Zeichenstift auf das Papier notiert, das wird auf diesem ausgebreitet, in der Gradation seiner Wichtigkeit geordnet, kurz es wird sichtbar gemacht.
Das Gezeichnete ist, so wie es ist, heute und morgen und übermorgen in gleicher Weise sichtbar. Vielleicht verändern wir Betrachter uns, die Zeichnung tut es nur minimal.
Das heißt, dass der Zeichnung, genauer dem durch die Zeichnung abgebildeten, die Zeit, die Veränderung entzogen ist.
Anders sieht es aus, wenn wir die Zeichnung selber betrachten. In ihr verläuft Zeit, immer wieder und immer von neuem. Denn der Zeichenstrich hinterlässt eine Spur, der wir mit dem Auge, vielleicht mit dem ganzen Körper folgen.
Es gibt einen Beginn und einen Schluss während des Zeichnens. Da sind Überlagerungen und Schraffuren, Pentimenti und Ausradierungen, skizzenhaft Hingeworfenes und akribisch Ausgearbeitetes. Zarte Linien müssen schweren Strichen weichen und umgekehrt.
Das Betrachten einer Zeichnung erfordert Zeit, genauso wie das Anfertigen einer Zeichnung Zeit erfordert, möglicherweise nur ganz wenig Zeit, möglicherweise aber auch sehr viel Zeit.
Die Zeit, die man bei der Ausarbeitung eines Gegenstand zeichnend gebraucht, die man sich diesem Gegenstand zuwendet, die wird immer wieder neu lebendig beim Betrachten der Zeichnung. Der Regisseur Tarkowski hat dieses seltsame Verhältnis, bezogen auf den Film, als eine „versiegelte Zeit“ bezeichnet.
Wie schnell drängen da dagegen die Bilder der Fotografie in die Zeit und die Sichtbarkeit hinein. Der Augenblick der Belichtung ist so kurz, dass im Grunde kein Bruch in die verrinnende Zeit gerät. Sicher zeigen diese sehr kurzen Bilder der Kamera eine so kaum wahrnehmbare Welt, aber gerade deshalb sind wir Betrachter bei solchen Bildern einfach nur anwesend, aber nicht dabei.
Und doch begnügen sich die allermeisten Reisenden mit einer Kamera (oder einem Mobiltelefon) als optischem Stenografen, sicher auch, weil kurze Reisen kurze Notizen bedingen. (Da muss man sich einmal daran erinnern, dass sich Goethe in Italien einen eigenen zeichnenden Reisebegleiter leistete.)
Zu welcher Art von Reisenden Richard W. Allgaier gehört ist durch den Anlass dieses Textes, nämlich seine Zeichnungen, schon bestimmt.
Ich stelle ihn mir als Künstler außerhalb seines Ateliers so vor: es gibt die weite Welt, also alles was wirklich ist, und von der wählt er sich irgendwo und aus irgendeinem Grund ein Ziel aus.
Dann ist er in ein oder zwei Ländern angekommen und steht in deren Lebensgewohnheiten, deren Religion und Bildern, deren Sprache und Literatur. Er ist in einer Stadt mit ihren Straßen und Häusern, er kennt Leute oder ist allein oder er ist in einer Landschaft, still oder bewegt.
Und nun gibt es ein Skizzenbuch in seinem Schoß, in das er hineinzeichnet, hineinschreibt und dabei sein Verhältnis zur ganzen Welt, zu dem Land, zu der Stadt und der Landschaft, zu der Strasse und der Stelle und zu den Leuten, auf einer kleinen Papierfläche mit dem Stift zuspitzt.
Während um ihn herum und mit ihm die Zeit vergeht, beginnt sich auf dem Blatt in der Zeichnung ein kurzer Moment immer wieder zu wiederholen und in Vergleich zu der umgebenden, sollen wir sagen „realen“ Zeit, zu stellen.
Manchmal zieht Richard W. Allgaier die Farbe als weiteres Ausdrucksmittel hinzu. Die Zeichnungen werden ausgetuscht oder übermalt.
Damit wird das zuvor gezeichnete Licht ein farbiges Licht, welches Emotionen und Stimmungen charakterisieren und eine streng umrissene Form auflockern kann.
Mal ist Allgaier dann zeichnend ein analysierender Beobachter und Konstrukteur, mal ist er malend ein empfindsamer Romantiker.
Wie aber unterscheiden sich Zeichnung und Malerei? Will man es einfach festlegen, dann kann man sagen, dass die Zeichnung die Dinge voneinander unterscheidet, überhaupt dass sie unterscheidet. Ein Strich teilt die Fläche eines Blattes in zwei Hälften, ein weiterer Strich teilt diese in weitere Segmente und so immer fort, bis dass in den Aufteilungen ein Abbild aufscheint.
Die Malerei dagegen vergleicht die Farbflecken und Farbflächen miteinander, zieht sie zu sichtbaren Gruppen zusammen, die so etwas wie visuelle Klänge erzeugen.
Gezeichnete Linien sind untrennbar mit ihrem Grund verbunden, gemalte Flächen schweben über ihrem und verdecken ihren Träger. Und doch kommen Zeichnung und Malerei nicht voneinander los.
Schauen wir uns einige Zeichnungen von Richard W. Allgaier genauer an:
Die Blätter gehören in Hefte und Bücher, und selbst wenn sie doch Einzelblätter sind, dann fragt man sich nach den Zeichnungen, die zuvor entstanden sind und denjenigen, die danach kommen. Es ist diesen Bildern innewohnend, aufgeblättert, also in Erscheinung gebracht zu werden, und zugeblättert, also zum Verschwinden gebracht zu werden.
Und selbst wenn sie an der Wand in einem Rahmen hängen, dann wird aus dem Hinzu- und Wegtreten des Betrachters so eine Art „Blättern“ in Allgaiers Bildwelt hinein.
Viele Texte, Notizen und schriftartige Notate begleiten die Zeichnungen, umgeben, erklären oder ignorieren sie.
Mal öffnet der geschriebene Text ein Fenster für ein Bild, mal stehen sich Sprache und Bild oder Bild und Bild auf zwei Seiten gegenüber, mal behauptet die Zeichnung die Fläche, und der Text muss sich irgendwie an der Seite vorbei seinen Platz suchen.
Es ist, als spreche Richard Allgaier mit seinem Stift über das, was er sieht und als sehe sein Stift das was er aufschreibt. Aber immer schreibt er so in seine Hefte, dass man gern dem Schriftmuster mit den Augen folgt und gern die Bilder in den Feldern aus Schriftzeichen betrachtet. Lesen kann man das auch noch, aber muss man es?
Mir fällt auf, wie sehr alle dargestellten Menschen aus gerundeten, in sich geschlossenen Formen gebildet sind. Der Strich kreist um eine Mitte und findet oft zu seinem Anfang zurück. Gleichzeitig bleiben die menschlichen Figuren immer ganz für sich, durch ihre äußeren Grenzen definiert. Oft wirken sie wie zu Menschenansammlungen zusammencollagiert oder wie als einzelne, nebeneinander gestellte Bilder.
Allein das Licht, aus einer Richtung kommend, legt sich in gekonnten Schraffuren über die Körper und fügt sie, wann immer möglich, zu einer „klingenden“ Gruppe zusammen.
Es ist, als vereinzele Richard Allgaier die beobachteten Leute indem er sie charakterisiert, und als füge er sie wieder zu einer Gemeinschaft zusammen, indem er sie in den Raum stellt, ihnen schraffierten Schatten und damit auch das Licht gibt.
Anders die Gegenstände: Häuser, Autos, Bäume und vor allem die Landschaft breiten sich über die Zeichenfläche aus, streben über die Blattränder hinaus, gerade weil Allgaier sie sich kurz vor dem Blattrand oft im weißen Blattgrund auflösen lässt.
Manchmal werden diese Linien zu Antennen, zu Fühlern, die von einem Menschen aus in den Bildraum hinein- und hinaustasten und so für diesen einen Ort, wenn auch einen fragilen Ort, bestimmen.
Mit der Farbe, hier also dem Aquarell, der Tusche, dem Farbstift verhält es sich seltsam. Denkt man an Richard Allgaiers Gemälde, abstrakte und sehr gestische Malereien, dann weiß man, dass die Malerei bei ihm sehr die Oberfläche betont, die Malfläche farbig ergreift und mit Texturen strukturiert. Von der Malfläche aus gibt es vorsichtige Griffe in den Bildraum hinein, immer abgesichert durch das, was an der Oberfläche des Bildes geschieht.
In den farbigen Zeichnungen ist das anders. Das Gezeichnete kommt hier sozusagen aus der Bildtiefe und drückt sich von hinten an die Malerei in der obersten Schicht, gerade so wie an ein farbiges Tuch, in dem sich die gegenständlichen Merkmale abdrücken, das aber immer seine Farbigkeit wie eine Schicht über die Form und den Raum der Zeichnung legt.
Manchmal dissoziieren die beiden Bereiche. Die Farbe liegt vorne, beherrscht die Fläche, während sich die Zeichnung von der Bildfläche aus in den leeren Bildraum nach hinten entfaltet.
Die Bildfläche ist das, wessen sich Richard W. Allgaier sicher ist, welche er virtuos beherrscht. Von hier aus, von zuhause , bricht er in die Ferne, in den Bildraum auf. Was dort geschieht ist ungewiss, denn auf den Fluchtpunkt zu wird alles immer kleiner, unerkennbarer und kann zuletzt in der Leere verschwinden.
Das, was da hinten geschieht, wird von Allgaier in der nächsten Zeichnung herangeholt, wieder in die Sichtbarkeit gehoben. Und so schreitet das Spiel der Bilder fort.
Oder aber die Dinge verschwinden in der Ferne des Bildes und einfach leerer Blattgrund bleibt und damit sichtbares Schweigen, Stille.
Deshalb liebt Allgaier auch altes, gebrauchtes und bedrucktes Papier, denn auf solchen Blättern steht ganz hinten das „schöne Papier“ selber und setzt der Bildlosigkeit im leeren Hintergrund eine Grenze.
Und zuletzt erkennen wir in all diesem Richard W. Allgaiers gezeichnetes und gemaltes Bekenntnis zur Sichtbarkeit, und zur Schönheit als dem Modus dieser Sichtbarkeit.