Rede zur Ausstellung von
Anna Lisei Math und Marvin Hoffmann
im Kulturspeicher Dörenthe
am 11. August 2023


Ich bin als Redner mit der Kunst einer mir zuvor nicht bekannten Malerin, Anna Lisei Math, konfrontiert, und mit der mir sehr vertrauten Malerei eines meiner ehemaligen Studenten, Marvin Hoffmann.

Durch diese Konstellation geben die beiden Künstler*innen ungeplant ein Strukturmodell vor, was denn bei der Betrachtung und dem Verstehen von Kunst so passiert oder passieren könnte.

Auf mich bezogen bedeutet das:

Die Malerin repräsentiert das noch nicht Gesehene, das Unbekannte, das womit man neu konfrontiert wird, und in das man sich erst hineindenken muss.
Es findet also nach und nach ein distanziertes sich bekanntmachen und vertraut werden mit der Malerin und ihren Bildern statt.

Der Maler dagegen ist für mich in seinen Werken wiedererkennbar, vielleicht durch viele Unterrichtsgespräche in einem Verstehensmuster eingeschlossen.
Jetzt gilt es somit Distanz zu Maler und Werk zu finden und dem Wiedererkennen fremd zu werden.

• Und sie merken vielleicht schon, dass sie selber bei der Anschauung dieser Ausstellung vor dem gleichen Problem stehen, nur dass jetzt die Künstler*innen die Rollen tauschen:

Math liefert ihnen durch die gegenständliche Erkennbarkeit zuerst eine leichte Lesbarkeit und Vertrautheit, die aber sehr schnell in eine Rätselhaftigkeit und auch eine Renitenz gegenüber der abgebildeten Wirklichkeit umschlägt.
Die beschreibenden Worte werden nur allzu leicht leer; es bedarf also einer Einfühlung und einer Analyse um weiterzukommen.

Hoffmann ist in der radikalen Abstraktheit seiner Farbflecken dagegen sperrig und braucht viel innere Formulierungsarbeit, um begriffen, auf den Begriff gebracht zu werden.
Hier verliert man schnell das Sichtbare buchstäblich aus den Augen, nimmt dieses nur als Chiffre für etwas Denkbares.

• Dem will ich in meiner Skizze entgegenwirken, indem ich mich auf die Werke der beiden einlasse.

• Es sei noch gesagt, dass es auch die Möglichkeit gibt, sich ganz einfach „schauend“ auf die Bilder einzulassen, und der Wirkung dieses Schauens nachzufühlen.
Dies ist sicher der in der Praxis schwierigste und gefährlichste Weg, weil man das wirkliche Erleben und das nur so tun als erlebe man etwas, kaum auseinanderhalten kann.

Anna Lisei Math baut so etwas wie Landschaften, Veduten, aus sich wiederholenden, in sich leicht variierten Elementen.
Vulkane, Bäume, Wellen, Locken usw. reihen sich aneinander und bedecken die ganze Malfläche.
Der Horizont ist über den oberen Bildrand hinausgeschoben, also entsteht ein Blick aus der Vogelperspektive.

Aber nie kommt der Blick ganz senkrecht von oben, wie bei einer Landkarte. Immer bleibt ein leerer Raum vor dem Bildgegenstand erkennbar, auch wenn die wiederholten Bildelemente die Bildfläche insgesamt bedecken.
Oder so etwas wie Laub versperrt den Blick auf den Horizont, wie oft in alten Gemälden.

Somit wird eine Nähe der Bildfläche zu uns Betrachter*innen erzeugt, obwohl die abgebildeten Dinge weit von uns entfernt sind.

Und: die Bilder sind auf aufgespannte Leinwände gemalt, also „Objekten“, die eine einzige straffe Vorder- und Schauseite haben.
Die Seiten der Keilrahmen sind da, aber sie sind nicht besonders wichtig.
Es ist also so, dass uns mit der Gemälde-Vorderseite eine bildfähige, gleichsam irreale Fläche dargeboten wird.

Die Muster erzeugen aber verblüffender Weise keine Monotonie, sondern fügen sich zu einem differenzierten Organismus zusammen.

Diese Bezugnahme von Teil zu Teil wird in den Wellenbildern besonders augenfällig, da wir wissen, dass das eine Wasser viele Formen aus zahllosen Wellen hat.
So kann man sagen, dass der eine Vulkan aus vielen Vulkanen in verschiedenen Zuständen besteht,
das Gebüsch aus vielen eigensinnigen Buschwerken besteht,
und die Locken aus vielen hartnäckigen Haardrehungen.

Eine Besonderheit sind die nächtlichen Himmelsbilder mit vielen Sternen und dem rätselhaften Titel „Hier war mein Kaisertum“, der wohl von Henrik Ibsen herstammt.
Wir wissen, wir ahnen die Ordnung am Himmel, aber wir sehen sie nicht. Ich meine, der Himmel ist der einzige sichtbare Gegenstand, der unordentlich aussieht, dem wir aber ohne weiteres eine straffe Ordnung unterstellen.
Anna Lisei Math stellt uns Ordnungen vor Augen, die ihre Lebendigkeit aus der Vielfalt und Eigenheit und Freiheit ihrer sie konstituierenden Elemente erhalten.

Es ist aber kein Radau der Individualitäten, sondern ein sich gegenseitig berücksichtigendes in Erscheinung treten, oder auch Zurücktreten um eine Lebhaftigkeit im Muster der Oberfläche zu gewährleisten.

Und zuletzt, die Sorgfalt, Genauigkeit und Geduld, die der malerische Vortrag veranschaulicht, ist ein sichtbarer Beleg für die Intensität und Ernsthaftigkeit dieser malerischen Modelle unserer wahrgenommenen Wirklichkeit.



Genau auf umgekehrte Weise wenden sich Marvin Hoffmanns Bilder uns zu.
Nichts wird auf diesen Bildern mimetisch abgebildet, alle Elemente sind das was sie sind, nämlich Farbmaterial/Farben auf einem Malgrund.
Was hier abgebildet wird ist die Malerei selber.

Denn noch so geplante und kontrollierte Bildfindungen, wie zum Beispiel bei Anna Math, kommen in ihrer Detailstruktur an den Punkt, wo der Zufall eine große Rolle spielt.

Also in dem Sinne wie:
wie wirkt der Farbton im Kontext, wie ist die Textur des aufgetragenen Flecks, vermischt sich die Farbe mit einer anderen usw.?
Aber auch Veränderungen, die mit der Zeit entstehen, wie zum Beispiel Craquelé in der Oberfläche.

Es ist aber nicht so, dass wir bei Marvin Hoffmann einen gleichsam mikroskopischen Blick auf ein Bild wahrnehmen, sondern wir kommen dem Bild eher sehr nahe und träten in die unbekannte Welt des ganz nahen Sehens ein.

Um nicht direkt malerisch zu formulieren benutzt Marvin Hoffmann Holzstempel, mit denen er texturartige Formen auf die Blätter druckt, oder er druckt einen Farbfleck von einem Papier auf den Malgrund ab.
Beide Techniken bieten einesteils ein Maß an Kontrolle, aber auch ein Maß an Kontrollverlust.
Das was durch Absicht und Zufall entstanden ist, wird korrigierend und kommentierend von Marvin Hoffmann mit dem Pinsel überarbeitet, aber auf jeden Fall mit so wenig Eingriffen wie möglich.
Diese Eingriffe deuten die Zufallsflecken nicht (wie es Max Ernst häufig tut), sondern sie verdeutlichen diese, geben ihnen Akzente, die sagen, dass dieser Zufall herbeigeführt und beachtenswert ist.

Man kann sagen, dass Marvin Hoffmann in das unbekannte Eigenleben der Bilder hineinschaut, und diese befragt, was sie denn so tun, unterhalb des Levels, auf dem Künstler*innen ansonsten das Aussehen ihrer Werke kontrollieren.

Hoffmanns Bilder sind auf Papiere gemalt, die mit je zwei Klammern an der Wand befestigt sind und dadurch verstärkt wie an der Wand aufgehängte Gegenstände aussehen.
Sie sind integrale Objekte, von denen wir uns auch eine irgendwie beteiligte Rückseite, eine Haptik und eine Materialität vorstellen können.


Also: Anna Lisei Math zeigt uns radikale Vorderseiten, Oberflächen die von einem „Apparat“ aus Keilrahmen und Leinwänden unseren Augen dargeboten werden, und uns Bildraum und Gegenstände in diesem vorweisen.

Marvin Hoffmann zeigt uns das, was in der Feinstruktur von Bildern passiert, das was jenseits von Bildraum und Abbildfähigkeit der Malerei passiert. Er versucht das unter Kontolle zu bringen, was bei „normalen Bildern“ nur zu schnell nicht mehr beherrscht werden kann.

So passen die Malerin und der Maler in dieser Ausstellung sehr gut zusammen, denn sie eröffnen uns Betrachter*innen jenseits ihrer individuellen Absichten und Eigenheiten ein Kompendium von dem was Malerei leisten kann.

Ich als Malerkollege kann dies sehr genießen.
Ich hoffe, sie als Betrachter*innen auch.