Paul Heinrich Ebell als Erzieher
Eine Beobachtung
Wenn wir Schüler an einer Malaufgabe arbeiteten, schaute Paul Heinrich Ebell nicht selten zum Fenster hinaus und man sah, er denkt nach.
Einmal wandte er sich unvermittelt zu uns um, und mit ernstem Gesicht sagte er: Gar nicht mehr lange, und ihr werdet euch selber Kleider und Möbel und vielleicht Bilder kaufen, und wenn ihr dann nicht das Allerweltszeug kauft, sondern etwas Ordentliches, dann habt ihr bei mir etwas gelernt.
Paul Heinrich Ebell hat seinen Kunstunterricht nie als gewöhnlichen Unterricht aufgefasst. Die anderen Fächer wurden den Schülern als wichtig und spannend geschildert; aber Kunst hieß einen Besuch bei dem Künstler Paul Heinrich Ebell in seinem Schulatelier zu machen. Und dieses hatte er für diesen Zweck nach seinen Vorstellungen eingerichtet und geordnet, wie er hie und da anmerkte.
Er verkörperte die Kunst und war nicht nur ihr Vertreter in der Schule.
Das machte ihn auch ein wenig rätselhaft. Aufgaben zeichnete er auf die Tafel vor, nicht als Vorlage für die Schüler, sondern so, wie ein Künstler zeichnet, entschlossen und energisch und die Schüler sollten es dann auf ihre Art nachmachen.
Manchmal hatte er einen Zeichenstift in der Hand, seltener sogar einen Aquarellpinsel, und machte an seinem Tisch etwas für uns Unsichtbares. Ähnlich wie wir Schüler sah er dann aus, konzentriert auf das Blatt und die Form und so fühlte man sich ihm, weil er gleiches tat, näher.
Man wusste: zuhause macht dieser Mann Sachen, die ihm noch wichtiger sind als das was er uns beibringt. Also gibt es auch für Lehrer ein wichtiges Leben außerhalb der Schule. Das verstehen Schüler sofort und damit gewann Ebell ihr Vertrauen.
Es muss ja einen Lehrplan in seinem Unterricht gegeben haben, denn unsicher vor den Schülern wurde Paul Heinrich Ebell nie. Jetzt macht ihr das, jetzt das, und so weiter, bis am Ende der Stunde jeder eine fertige Arbeit vorweisen konnte.
Zu fühlen war diese vorgeplante Struktur nicht. Man war einfach mit einem Künstler zusammen und vor allem, wenn man mitmachte, wurde man von ihm als gestaltende Persönlichkeit ernstgenommen.
Wann und wie Ebell eigentlich die Noten machte, habe ich nie wahrgenommen.
Alles Unmittelbare im Ausdruck war ihm wichtig. Handzeichnung (mit Tusche), Holzschnitt, Kaltnadelradierung, Ölbilder mit dem Spachtel gearbeitet und besonders das Aquarell. Für Schüler waren es Linolschnitt (mit seinem eigenartig angenehmen Geruch), Kartoffelstempel, Materialcollage und Deckfarbenmalerei. Nicht zu vergessen die Schrift, an der wir uns abmühten, um am Ende durch die getrocknete Tusche, seltsam knisternde Schriftbögen in der Hand zu halten.
Paul Heinrich Ebell selbst hatte eine souveräne Handschrift, die für uns Schüler selbstbewusste Schriftgestaltung darstellte, Beleg war, dass Schrift nicht nur Inhalt sondern auch Ausdruck besitzt.
Hie und da, nicht ohne Grund, explodierte er; als Schüler konnte man das Naturereignis nur abwarten und sehen, wie geformt und ausdruckskräftig Sprache selbst in sprudelnder Hitze sein kann.
Sprechen erschien bei ihm immer als das natürliche Gegenstück zur bildenden Kunst und also redete er nicht selten so wie ein Schauspieler auf dem Theater.
Oder: „Heute Abend gibt es etwas von Peter Zadek im Fernsehen, das müsst ihr anschauen“. Wahrscheinlich hat’s keiner gemacht, aber als Möglichkeit für die Zukunft blieb es hängen.
Deshalb redet seine Stimme auch noch heute, bewusst oder nicht, im Geiste mit, wenn es um Kunst geht.
Zuweilen zog er unvermittelt ein Buch heraus und las im Unterricht Geschichten vor: „So, und jetzt malt ihr das Wichtige von der Geschichte“. Da tauchten Namen auf, die sonst nie fielen: Edschmidt, Trakl; wir dachten, nur der kennt die.
Draußen, im Rathaus, in den Kurbetrieben, in Privatwohnungen und Ausstellungen gab es Holzschnitte, Ölbilder, Aquarelle und natürlich die großen Betonglasfenster. Das war der anschauliche Beweis seiner Wichtigkeit und von der konnte man im Unterricht eine Scheibe abhaben.
Zufällig bei den Eltern von Freunden, an einem Nachmittag, seinen Lehrer anzutreffen und zu merken, er wird hier gar nicht als der Lehrer sondern besonders als Künstler respektiert, macht auf einen Schüler mehr Eindruck als viele Schulstunden und gibt Kunst eine stärkere Bedeutung als nur Schulfach zu sein.
Paul Heinrich Ebell vermutete in den meisten Schülern ein künstlerisches Potential. Etwas selber zu machen und Kunst zu genießen, Mut zur Phantasie zu haben und sich für Ungewöhnliches und Randbereiche zu interessieren, waren Ziele seines Unterrichts.
Da gab es immer wieder Höhepunkte, die aus dem Schulalltag herausragten: pantomimische Theateraufführungen, für die Masken und Bühne gestaltet wurden, Ausstellungen der Schülerarbeiten in der Kleinen Galerie und als besonderes Vertrauen in die Gestaltungskraft der Schüler, die Ausstattung der Marienkapelle in Mattenhaus. Ein Mosaik über den Eingang, die Glasfenster, der Fußboden, Altartücher, Kruzifix, Leuchter und Kerzenhalter und eine Madonna mit Kind wurden von Schülern verschiedener Klassen gestaltet.
Die durch Ebells Vorbild sichtbare Gewissheit, als Künstler jemand zu sein, dessen Arbeit von einem zwar kleinen Publikum beachtet wird, hat sicher dazu beigetragen, einige seiner Schüler sich für ein Kunststudium entschließen zu lassen.
Ausgesprochen angeregt hat er dazu keinen, denn für ihn war Kunst so sehr in das Leben eingebettet, dass es nicht nötig war, junge Leute unbedingt zu Berufskünstlern zu machen.
Im Rückblick ist es erleichternd zu sehen, wie Paul Heinrich Ebell seinen Künstlerschülern die Freiheit ließ, sich dahin zu entwickeln, wohin sie ihr Talent führte.
Im Unterricht sprach er hie und da neueste Entwicklungen in der Kunst an. Obwohl fühlbar war, dass ihm da einiges nicht behagte, vermied Ebell jede Wertung. Man konnte, ohne sich unter Druck zu fühlen, dafür oder dagegen sein.
Paul Heinrich Ebell bezog sein Selbstbewusstsein als Künstler aus seiner Arbeit und deren Einfluss auf Stadt und Region wo er lebte, nicht aus dem Gerangel innerhalb der Kunstszene oder kommerziellem Erfolg.
Obwohl er in seinem Leben mehrmals woanders hingehen musste, um mehr oder weniger von vorne anzufangen, sah man, da wo er jetzt ist, hat er einen festen Stand und will und braucht nicht in die Metropolen zu streben.
Erzählend und berichtend zeigte er sich als Kenner von Oberschwaben, Allgäu und Bodensee.
Für junge Schüler unbekannte Orte wie Schlesien und Breslau, Berlin, Chicago, Flandern und Bretagne umschlossen die uns bekannte Welt.
Seine Lehrer Dobers, Holz, Muche, Mueller und Schlemmer ließ er zuweilen erzählend auftreten und mit ihnen die Breslauer Akademie, die Berliner Kunstschule.
Als Künstler blieb man immer auf freundschaftliche Distanz zu ihm, aber in Gesprächen spielte und spielt er eine große Rolle. Seine Existenz als Künstler zeigte einen Weg, auf dem man selber Maler werden und sein konnte. Der künstlerische Einfluss Paul Heinrich Ebells ist, wenn auch nicht in der unmittelbaren Anschauung, doch so stark, dass zumindest mir ein Kollege, der Ebell nicht weiter kennt, dessen Einfluss auf meine Bilder aus dem Stand bestätigte.
Und die meisten Künstlerschüler bekamen irgendwann ihren (manchmal ersten) Auftritt in seiner Kleinen Galerie.
Hie und da wanderten wir mit ihm von der Schule zum Elisabethenbad, um in der Kleinen Galerie eine Ausstellung anzusehen. Dass er selbst die Galerie gegründet hatte, um unter anderem seinen Schülern Originale zeigen zu können, wussten wir nicht.
Sowenig wie wir merkten, dass wir in der Ausstellung nicht belehrt wurden. Ebell achtete allein darauf, uns alle zusammen in die Galerie zu führen und dort ließ er uns einfach die Bilder genießen oder, wenn man schon mal da war, über diese zu diskutieren.
Bei einigen Galeriebesuchen wartete bereits seine Frau nebst Hund auf uns, um uns freundlich zu begrüßen.
Einige Schüler durften beim Aufbau der neuen Ausstellung in der Kleinen Galerie helfen. Wechselrahmen herumtragen, diese putzen, manchmal ein Blatt in den Rahmen legen, die Verschlusshaken schließen waren die Aufgaben. Was Lehrer/Galerieleiter und Künstler bei der Auswahl der Bilder besprachen, wie eine Ausstellung Gestalt bekommt und was passiert, wenn man, was vorkam, eine Grafik beschädigte, sind Dinge, die den Kunstunterricht in den Alltag hineinfließen lassen. Die, die nicht dabei waren fragten anderntags: Und, was hot’r gmacht?
Die Eröffnungen am Samstagnachmittag waren eine der wenigen Gelegenheiten solche Leute wie Bürgermeister, Schulleiter, jede Menge Lehrer und andere bekannte Leute aus der Stadt zusammen zu sehen und zu erleben. Und wir konnten Schriftsteller wie Josef W. Janker und Thaddäus Troll sehen und lesen hören und auch Museumsleute von sonstwoher.
Die Schüler beachtete natürlich keiner, aber Herr Ebell war unser Mann bei den wichtigen Leuten und später im Unterricht gab er zuweilen spitze Kommentare zu diesen ab.
Abbildungen hat Paul Heinrich Ebell so gut wie nie im Unterricht gezeigt und Dias schon gar nicht. Lieber hat er selber eine Form gezeichnet und wenn es um andre Kunst ging, dann konnte er an der Tafel mit Kreide einfach mal selber zeigen wie z.B. ein Braque das so macht.
Besser war natürlich, wenn er aus seiner Ledertasche ein Original von einem Kollegen zog und nicht abgebildete, sondern echte Kunst erklärte. Kunstunterricht hatte für ihn authentisch zu sein und so sollte das Anschauungsmaterial ebenfalls, wenn möglich, nicht aus zweiter Hand sein.
Allein die Mappen mit Kunstreproduktionen, die jährlich in der Schule angeboten wurden, empfahl er uns dringend.
Welche Überraschung, als wir am ersten Schultag nach den Ferien im Treppenhaus der neuen Schule das riesige Betonrelief sahen. Nicht irgendwer, sondern unser Herr Ebell hatte das gemacht. Mit Stolz stellte er uns vor der Wand auf, erklärte was zu sehen ist und was er zeigen wollte, berichtete vom Geschick der Handwerker, die ihm geholfen hatten, von den Schwierigkeiten der Montage an der Wand und beendete die Stunde unvermittelt mit einem Gedicht.
Nicht jeder Schüler war da die ganze Zeit bei der Sache, aber neben den üblichen Ablenkungen gab es z.B. Ebells Anzüge, anders geschnitten und von anderer Farbe als die gewöhnlichen. Beneidenswert, wie lässig er da etwas aus der Jackentasche herausnehmen konnte. Und der Schnauzbart...
Sein Beispiel machte die moderne Kunst, andernorts abfällig kommentiert, glaubwürdig und wenn man sie auch nicht begriff, war man doch gewiss, einmal dahinterzukommen was es mit ihr auf sich hat.
Die Aufträge für große Betonglasfenster spielten eine große Rolle auch im Unterricht. Wo und wie das Glas gefertigt wurde, wie die Entwürfe auf Originalgröße gebracht wurden und wie zuletzt die Bilder in die Wand eingefügt wurden, war immer wieder Thema und Anlass für Aufgaben.
Neben der Kunst für Erwachsene entsteht auf einmal ein Bilderbuch für Kinder: „Sommer in Bourlebeau“. Eine Geschichte für Kinder mit Bildern, wie sie Ebell auch für die Großen gemalt hätte. Dahinter steht Ebells Überzeugung, auch die Kleinen sind groß genug für die „richtige“ Kunst.
Eine große Rolle im Unterricht spielten seine Künstlerkollegen aus der Sezession Oberschwaben. HAP Grieshaber, Sepp Mahler waren uns bekannte Namen. Allerdings zeigte Ebell weniger deren Werke, er erzählte von ihrer Arbeit, machte einige ihrer Gesten nach und wies manchmal auf eine Ausstellung irgendwo in Oberschaben hin. Natürlich fuhr keiner hin, um sich die Bilder anzuschauen, denn dafür haben Schüler viel zu viel anderes wichtiges zu tun.
Ebells Absicht war es wohl, uns wie Batterien mit einer Neigung zur Kunst aufzuladen, die im geeigneten Augenblick und viel später wirksam werden soll.
In der Oberstufe, als Ebell schon längst nicht mehr lehrte, zog es uns in die Museen in Stuttgart, Ulm und München.
Paul Heinrich Ebells Kunst wird bleiben und hat im Museum im Kornhaus und im Ulmer Museum einen festen Ort gefunden
Das was er gelehrt hat, steckt in seinen Schülern und kann von diesen an Kinder und neue Schüler weitergegeben werden. Was es ist, kann man bald wohl nicht mehr benennen, aber wenn man Ebells Werke kennt, kann man es auf jeden Fall noch fühlen.
Katalog der Ausstellung Paul Heinrich Ebell im Kornhaus-Museum Bad Waldsee 2002