Jörg Eberhard
Ein von außen einsehbarer Garten des Malens
Zur Malerei von Rolf Gerhards 2024/25
Die Kunst von Rolf Gerhards erscheint ganz und gar durch die Mittel der Malerei. Selbst die Zeichnung, für Maler doch oft eine die Gemälde vorbereitende Übung, ist bei ihm zu vernachlässigen. Skizzen, auf Reisen und außer Haus angefertigt, entstehen als Aquarellmalerei, als gestische und farbige Notizen. Und Plastik, also bildhafte Gestaltung im realen Raum, kommt bei ihm nicht vor, es sei denn, man zählte die Hängung der Gemälde im Raum zu dieser. Doch davon später.
Um die Malerei von Rolf Gerhards mithilfe und in der Sprache erscheinen zu lassen und sie in ihrer Charakteristik zu ergreifen und auszudeuten, müssen zunächst die sie konstituierenden Elemente gesehen, erfasst und beschrieben werden. Betrachtet man ein einzelnes Kunstwerk, so ist die Wahl dieser verwendeten malerischen Elemente grundsätzlich die originäre Entscheidung des Künstlers, bedingt durch seinen Charakter - man kann sagen sein Talent -, seine Ausbildung und die Gesellschaft, in der er lebt. Jedoch muss man sehen, dass dem Maler zu dem Zeitpunkt, an dem er ein Bild beginnt, historisch nur eine bestimmte Anzahl an materiellen und geistigen Mitteln zur Verfügung steht. Diese aktuellen und gültigen künstlerischen Mittel werden von der „Geschichte“ im jeweiligen Moment gleichsam freigeschaltet und sind nur von einem Künstler / einer Künstlerin in einem bestimmten Moment und an einem bestimmten Ort zu einem sinnvollen bildnerischen Gefüge formbar. Allerdings, das Erfühlen und Erkennen dessen, was noch oder wieder verfügbar ist, unterscheidet Amateure von sich zurecht so nennenden Künstlerinnen und Künstlern.
Deshalb ist ein „Zurück zu“ eine unfruchtbare Entscheidung, denn der Griff zu obsoleten Bildmitteln führt zu wirkungslosen Bildern. Genauso ist ein „Vorwärts zu“ sinnlos, denn die Utopie wird dann aus alten Bausteinen zusammengefügt und verweist letztlich in die Vergangenheit.
Das bedeutet nicht, dass Kunst nicht sehr früh und vorab etwas zeigen kann. Dies liegt aber eher daran, dass Kunstwerke eben Bilder sind, und sie materiell nicht das sind, was sie abbilden. Also kann etwas, das gesellschaftlich-geschichtlich gerade entsteht, im Bild viel schneller in Erscheinung treten als in der Wirklichkeit, denn diese ist mit einer psychischen und wirtschaftlichen und politischen und physikalischen Trägheit belastet. Kunst ist also nicht prophetisch in einem esoterischen Sinn, aber in ihr wird vieles schneller sichtbar, nämlich das, was gerade jetzt materielle Wirklichkeit werden könnte. Sie ist so etwas wie eine „Erscheinung“ dessen, was auf dem Weg ist, möglicherweise Realität im gelebten Leben zu werden. Natürlich können Bildelemente und Techniken aus der Vergangenheit wieder aufleben und aktuell verwendbar werden. Damit werden aber nicht die Kunst, und schon gar nicht der Stil, in dem sie ehedem auftraten, wiederbelebt. Der Begriff „Stil“ ist in der Kunstgeschichte zu einem Werkzeug von Buchhaltung und Hierarchie geworden und im Alltag ist er zu einem banalen Geschmacksbekenntnis mutiert, im Sinne von „Das ist mein Stil“ („…und morgen wahrscheinlich ein anderer.“). Ich verstehe Stil als einen komplexen Sinnzusammenhang von sowohl Kunst als auch von materieller und immaterieller Wirklichkeit innerhalb eines größeren geschichtlichen Abschnitts.
Da dieser Zusammenhang in der Aktualität nur partiell mit Sprache erfasst werden kann, spielt die Intuition eine große Rolle. In der Alltagswirklichkeit geschieht der Stil einfach, während in einem Kunstwerk ein Gefüge aus Kalkulation und Intuition gemacht wird. Die Wirklichkeit entfaltet in der Kunst letztlich durch unüberschaubar viele einwirkende Zutaten ein materielles Gebilde. Dieses zeigt, wenn es gelungen ist, welche Vorstellungsräume uns geöffnet und welche uns verschlossen sind. Im Nachhinein ist die Struktur von Kunst (und Wirklichkeit) gut zu analysieren und sprachlich zu erfassen; in der Gegenwart und gar in der nahen Zukunft dagegen müssen wir uns auf die Intuition verlassen und mit Fragmenten vorlieb nehmen.
Um die Gemälde von Rolf Gerhards zu verstehen, muss zunächst geklärt werden, welche künstlerischen Elemente und Strategien ihm (noch) verfügbar sind und wie es zu diesem Konvolut des Verfügbaren kommt.
Das, was wir die alte Kunst vergangener Jahrhunderte nennen, hatte eine grundlegende Tendenz, möglichst viele ihrer sie konstituierenden Elemente, das heißt der inhaltlichen Motive sowie der Form, ihrer Farbe, der Gestik und der Textur der Malerei, zu einer komplexen und sichtbaren Einheit zusammenzufügen. Natürlich gab es immer wieder teils extreme Ausbrüche aus dieser Einheit; diese wurden aber stets durch einen neuen Stil eingefangen und in ein zusammenhängendes Muster eingefügt, also integriert, sodass „Widersprüche“ sich nicht im zeitlichen Verlauf der Wahrnehmung direkt begegneten und in einem Nacheinander einen Ausgleich fanden.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts änderte sich dies langsam. Die Künste, und nicht nur diese, begannen sich von einer synthetischen Grundstruktur in eine analytische zu transformieren. Bild, Ornament und Architektur trennten sich, zunächst noch ganz langsam, voneinander. Das Bild trennte sich in Malerei, Zeichnung, Skulptur, Druckgrafik und später in Fotografie, Film, Video etc. In der Malerei wurde entweder der Inhalt bevorzugt oder die Form, oder die Gestik, oder die Konstruktion… Kurz: Jedes künstlerische Element, welches von den anderen emanzipiert wurde, geriet sogleich in eine weitere Analyse, die es in wenigstens zwei neue Teile auftrennte.
Häufig reagierten die Künstlerinnen und Künstler so, dass sie einen der aufgetrennten Teile als die wahre Kunst hervorhoben, während der andere Teil als rückschrittlicher Abfall abgetan wurde. Die umgekehrte Bewertung wurde gleichzeitig von anderen Künstlergruppen als die allein richtige gedeutet und praktiziert. Während diese Auftrennungen im späten 18. Jahrhundert noch sehr langsam verliefen und sich im 19. Jahrhundert zwar beschleunigten, aber doch, grob gesagt, in Generationswechseln voranschritten, wurde die Geschwindigkeit in der Moderne so groß, dass die Wechsel zu noch radikaleren Positionen inzwischen praktisch im Jahresrhythmus stattfinden.
Immer wieder gab es Künstler und Künstlerinnen, die dieser Mechanik entgegentreten wollten, was meist mit einer Wiederbelebung begründet wurde (z.B. sehr früh die Nazarener). Dies konnte nicht zu einem Ergebnis in der Wirklichkeit führen, denn ein „Zurück zu“ in der Kunst hätte auch ein unmögliches „Zurück zu“ in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Technik verlangt. Ein „Vorwärts zu“ braucht nicht weiter erläutert zu werden, denn es ist nur ein gut gemeinter Teil des geschilderten Aufteilungsprozesses.
Nun hat dieses Zerteilen der Kunst in ihren avancierten Positionen heute einen Punkt erreicht, in dem die verbliebene Kunst in Kunst und Nicht-Kunst zerlegt wurde. Folglich sehen wir in entsprechenden Ausstellungen auch „Werke“, die aus der Politik, dem Aktivismus und den Wissenschaften stammen und deren Ergebnisse veranschaulichen. Aber selbst dieses Veranschaulichen ist nicht mehr notwendig, denn häufig wird der gemeinte Inhalt in einem Text vermittelt, während das gezeigte Artefakt als Zeichen allein auf den Inhalt hinweist, diesen aber weder beinhaltet noch vermittelt. Nun kann man einwenden, dass es noch reichlich genug neue Kunstwerke gibt, die keine so extreme Stellung einnehmen. Dies wäre ein starkes Argument, wenn diejenigen, die diese Werke hervorbringen, nicht so oft den „state of the art“ ignorierten, oder einfach nicht kennen, und damit unversehens in ein unfruchtbares „Zurück zu“ gerieten. Das Verdikt des „gut gemeint“ greift da häufig.
Es gibt aber auch noch Kunst, die ermittelt, welche Gestaltungsmittel noch, oder gerade noch, oder überhaupt erst neuerdings verfügbar sind, um glaubwürdig eine imaginierte Welt vor Augen zu stellen, die auf der Wahrnehmung der materiellen und medialen Umgebung zu einer Vorstellung der Welt, wie sie ist, und wie sie sein könnte, führt, und diese durch Darstellung den Sinnen und dem Verstand der Betrachtenden verfügbar macht.
Rolf Gerhards ist ein Maler, der eben auf der Suche nach noch Gültigem seine Malerei so anlegt, dass in ihr fortgeschrittene Darstellungsweisen benutzt werden, aber so, dass all das, was in der malerischen Praxis noch irgendwie möglich ist, erhalten bleibt und nicht einer vorschnellen und nur behaupteten Innovation geopfert wird.
Vor vielen Jahren waren Gerhards‘ Bilder eindeutig ungegenständlich, oft monochrom oder ein All-Over der Farben, sich von Bildkante zu Bildkante ausbreitend. Sie zeigten nur die Farbmaterie, ihren Farbton, die Gestik und die Textur des Farbauftrags. Da die Oberflächen seiner Malereien nicht aus einer einzigen Farbe bestehen, sondern sie in einer Art Pointillismus aus der Distanz betrachtet zwar eine bestimmte Farbe haben, aus der Nähe gesehen aber ein Feld aus unterschiedlichen Farbpunkten sichtbar ist, lag in diesen Bildern schon damals eine latente Gegenständlichkeit, denn die summarisch gesehene „eine“ Farbe auf der Malfläche verwandelt sich im Nahbereich in ein Oszillieren vieler Farben, die gleichsam die sichtbare Farbe hervorbringen, aber in gewissem Sinne diese auch abbilden, und damit der Malerei die Tür offen halten, etwas mimetisch wiederzugeben, also etwas sichtbar werden zu lassen, das etwas anderes ist als Farbe und Leinwand, dabei aber mit beiden in der Sichtbarkeit dessen, was sich auf der Malfläche befindet, eng verknüpft ist.
Eine monochrom angestrichene Fläche nehmen wir dagegen eher als ein Objekt außerhalb von uns wahr, etwas über dessen Eigenschaften man sich mittels objektivierender Parameter, zum Beispiel einer Farbkarte, verständigen kann. Man kann sagen, dann wird das Bild zu etwas analog zur materiellen Wirklichkeit Verstehbarem. Eine aus vielen Farbpunkten bestehende Farbfläche dagegen kann eine einzige Farbe zeigen und aus der Nähe betrachtet zu einem Rauschen aus vielen Farben werden. Unsere Wahrnehmung sagt uns bei Rolf Gerhards‘ Malereien, dass das, was wir sehen, ein Wahrnehmungsvorgang und ein Wahrnehmungsprodukt ist.
Eine Verständigung über das so Gesehene zwischen zwei Betrachtenden braucht einen sehr differenzierten sprachlichen Austausch, ohne dass dazu technische Hilfsmittel herangezogen werden können oder dazu überhaupt nützlich wären. Dies erklärt auch Gerhards‘ intensive Beschäftigung mit Literatur, die für ihn weniger Theorien der Bilder bereitstellt als ganz einfach Worte und Begriffe, mit denen das im Bild Gesehene sprachlich ergriffen und ausgetauscht werden kann.
Man kann sagen, dass das malerische Vorgehen von Rolf Gerhards die Imagination, also unsere Vorstellungskraft, vehement ins Spiel bringt. Wenn wir die Farbe eines der älteren Bilder von Rolf Gerhards in unserem Blick aus den unzähligen Farbpunkten zusammensetzen, genauer gesagt diese sehend erkennen, dann entsteht im Hintergrund die Frage, was wir hier überhaupt sehen. Diese Frage bleibt unbeantwortet, denn das Gesehene ruft ein weites Feld von möglichen Gegenständlichkeiten auf, die alle nur behauptet, aber im abwägenden Gespräch nicht verifiziert werden können.
Im frühen Werk von Rolf Gerhards sind oft Diptychen, Serien oder ganze Bilderblöcke entstanden, welche die Einzelbilder untereinander in Beziehung setzen und damit eine Referenzierung der Bildbedeutung innerhalb der Malerei nahelegen. Es sind eben ganz abstrakte Bilder, insofern, dass keine Einigung über ihre mimetischen Eigenschaften gefunden werden kann und darüber, ob sie überhaupt solche haben.
Die Titel dieser Gemälde geben keinen Hinweis auf eine abbildende Deutung. Es sind eher Verweise auf Musik, antike Mythologie, Zahlen oder rätselhafte Verweise. Jedenfalls verlangen sie, das Gemälde parallel zu seinem Titel zu verstehen. (Allerdings blitzen hie und da doch gegenständlich verankerte Titel auf, die aber, so denke ich jedenfalls, damals von der Intention her nicht so sehr auf den Gegenstand verwiesen wie bei den aktuellen Arbeiten.) Weder erklärt der Titel den Bildinhalt noch veranschaulicht das Gemälde den Titel, der ja die erste Schnittstelle zu der das Bild ausdeutenden Sprache ist und damit das Gespräch und die Kommunikation über die bildende Kunst ermöglicht.
Nun ist die Abstraktion in der Kunst auch so erklärbar, dass sie in dem Moment als Möglichkeit erscheint, wenn keine allgemein in einer Kultur vorhandenen Bildgegenstände aus der Religion, der Mythologie, dem Staat, der Repräsentation mehr dargestellt werden können und ihre Namen nur noch zu Chiffren werden. Dass die Abstraktion zu einem Übergreifen von Architekturelementen und Ornament auf die Bildkunst führt, gehört nur am Rande hierher. Die Bilder wollen aber aus ihren Formalien heraus verstehbar sein, was dazu führt, dass jede Malerin und jeder Maler ihren bzw. seinen „Stil“ sucht und praktiziert. Damit entstehen Malereien, die auf ihre Produzenten bezogen sind, uns sozusagen ein Surrogat des Lebensstils anbieten, uns aber sonst weiter nicht tangieren.
Man kann heute sagen, dass die Kunst ihre den Inhalt, die Form, die Farbe, das Material und die Geste bearbeitenden Gestaltungsmittel im engeren Sinne nicht mehr sicher zur Verfügung hat. Deshalb, oder um diese Problematik zu umgehen, fällt größeres Interesse auf Gestaltungsmittel, die gleichsam von selbst, in einem automatischen oder halbautomatischen Prozess, die Malereien entstehen lassen. Inhalte liefern uns eher die Fotografie und der Film, ebenso die durch malerische Eingriffe gedeutete Frottage und die Collage, die Montage, das Readymade und die Performance.
Häufig beinhalten aktuelle Malereien einen „Grund“ aus Klecksen und triefenden flüssigen Farben, oder die Gemälde werden monochrom angestrichen, oder sie werden mit technischen Methoden der Industrie hergestellt (Siebdruck, Digitaldruck). Gestischer Farbauftrag meint oft nicht mehr einen expressiven Ausdruck, sondern zeigt nur etwas, was ehedem in der Malerei eine Bedeutung hatte, stellt die Geste also als „Gegenstand“ aus. Und zu dieser Reaktion gehören auch die Künstler und Künstlerinnen, die „zurück zu“ etwas wollen, denn die aus der Vergangenheit herangeholten Elemente sind hier nur vorgefertigte Elemente. Es ist somit die Situation eingetreten, dass die Kunst nicht mehr unsere Lebenswelt gestaltet, vielleicht nicht mehr gestalten kann, und so nicht mehr in unserer alltäglichen Welt sichtbar erscheint. Sie zieht sich in Ausstellungsräume, Projektionen und Monitore zurück und zieht ihre Anlässe vermehrt aus der Politik, dem Aktivismus oder einfach aus nichts.
Dieser in die Kunst eingetretenen Indirektheit und Unschärfe, diesem genau genommen Uneigentlichen, widersetzt sich Rolf Gerhards. Er untersucht bewusst und intuitiv, welche künstlerischen Mittel noch eine Realität und eine anwendbare Potenz haben. Wir sahen schon, wie er eine sichtbare Farbe aus vielen im Detail sichtbaren Farben entstehen lässt. Es wird somit durch viele Farben eine dominante Farbe abgebildet. Die verwendeten Farben sind bei Gerhards also sie selber und zugleich sind sie immer eine ganz andere. Er kommt auf diese Weise malend aus der Selbstreferenz und Tautologie heraus, denn das Sichtbare ist immer auch etwas Anderes, der Farbton besteht nämlich aus vielen materiellen Farbflecken, während diese immerfort zeigen, dass sie sich in der Menge zu etwas Komplexerem zusammenschließen. Es bleibt bei aller Nachvollziehbarkeit dieser Malerei etwas Geheimnisvolles in diesen Bildern, einfach weil man, wenn man etwas sieht, etwas anderes zwangsläufig nicht sieht. Dieser „Abstand“ im Bild öffnet uns den Raum für eine erlebende Betrachtung, die Erfahrungen anbietet und sich nicht nur in sich selbst erschöpft oder einen Anlass für einen „Diskurs“ anbietet.
Dieses Verhältnis der benutzten Mittel untereinander kann man bei Rolf Gerhards auch bei den anderen Parametern der Malerei beobachten: Schon in den abstrakten Bildern war als Potenz ein mimetisches Abbild enthalten. Es bedurfte keiner Abkehr von der Abstraktion, keiner Umkehr, sondern nur eines kleinen weiteren Eingriffs, um im Bild wieder ein Abbild erscheinen zu lassen. Dieser Eingriff besteht in der Verwendung von einfachsten Schablonen aus dünnem Papier, mit denen ein partieller Unterschied in die gleichmäßige Textur des Farbauftrags gebracht werden kann. Teils genügt es, die Papierstücke grob zuzuschneiden oder einfach zu reißen und zusammenzulegen, um in unserer Vorstellungskraft aus der Farbe und der minimalen Form so etwas wie eine Landschaft zu machen. Wobei Landschaft hier immer einen konkreten Ort meint, also eine Topografie, die Rolf Gerhards selber gesehen und erlebt hat, sei es in der Umgebung seiner Wohnung, sei es auf Reisen in entferntere Regionen, wie zum Beispiel nach Italien oder Island.
Die Behandlung der Bildoberfläche mit einer alles übergreifenden Faktur durch die Geste des Aufspritzens der Farbe wird dadurch nicht unterbrochen. Lediglich sind einige Partien durch Abdeckung der Farbfläche für den fortlaufenden Malvorgang nicht mehr erreichbar, und dies genügt, um erkennbare Formen in dem Farbgefüge aufscheinen zu lassen. Das Licht, durch helle und dunkle Farbschichten dargestellt, tut ein Übriges, um einen tiefen, farbigen und kohärenten Raum zur Erscheinung zu bringen.
Die abbildenden Flächen entstehen dabei nicht, indem Rolf Gerhards diese mit dem Pinsel berührt und bemalt. Der Pinsel kommt nicht in Kontakt mit der Bildoberfläche, bleibt immer über dieser und verspritzt nur über eine kleine Distanz die Farbe, die Gerhards mit ihm aufgenommen hat. Es entsteht ein indirekter Malduktus, der durchaus einmal sanft und ein andermal heftig sein kann, aber nie eine expressive Qualität bekommt, die einen Rückschluss auf Rolf Gerhards‘ seelische Verfasstheit oder die Intensität seines Erlebens zulässt.
Das Bild wird malend vom Maler nie berührt; man kann in gewissem Sinne sagen, dass Gerhards im herkömmlichen Sinn gar nicht mehr malt. Die kohärente und makellose Farbschicht auf den Bildern, deren Faktur in ihrer Erscheinung zwischen manueller und technischer Herstellung oszilliert, tut ein Übriges, um uns dem Bild zugleich nah und fern sein zu lassen.
Es (das Bild) ist eher ein Garten, und dieser im Prinzip öffentlich einsehbar gedacht, der gehegt und gepflegt und bewusst angelegt wird, der seine Erscheinung dann aber selber, aus eigenen, in ihm angelegten Möglichkeiten entwickelt und entfaltet, und dann zeigt, was in ihm an Schönheit steckt, ohne dass der Initiator (der Maler) sich in ihm als dominant abzeichnet. Damit entsteht in Rolf Gerhards‘ Bildern ein wirkliches Kolorit, das den integralen Zusammenhang einer möglichen Farbwelt vor Augen stellt. Das farbige Sichtbare wird eben nicht zum Zwecke einer Interpretation irgendwie eingefärbt, vielmehr entsteht es aus einer komplexen Bezüglichkeit von vielen Farben auf- und untereinander. Der Maler erlebt die farbige Genese des Bildes mit und beendet die Malerei dann, wenn ihm der entstandene Farbraum etwas sagt. Es ist sein Farbraum, seine Farbstellung, ihm vom gemalten Bild angeboten, die nur er als „richtig“ zu erkennen vermag, die er uns zum Sehen anbietet, damit wir einen Moment mit und durch Rolf Gerhards‘ Blick und Geste dahin gelangen, wo wir selber durch die individuelle Beschaffenheit unserer jeweiligen Wahrnehmungsweise und unserer Ausdrucksfähigkeit nicht hingelangen können.
Eindrücklich sind auch die Farbspuren, die rund um das auf dem Boden liegende Bild beim Malen entstehen. Hier sieht man, wie ein Bild buchstäblich im Nichts endet, wie Farbe, einfach weil sie neben dem Bildträger landet, wieder zu einfachem Farbmaterial wird. Sie ist nicht mehr - wie in der englischen Sprache - colour, sondern nur noch paint. Das sehen natürlich nur einige bevorzugte Besucher und Besucherinnen des Ateliers, wenngleich ein intensives Bildbetrachten einem die Vorstellung davon erzeugt, was beim Malen neben der Malfläche entsteht. Dass dieser „Überrand“ des Bildes als Erinnerung zu ihm gehört, dafür ist ein Indiz, dass Gerhards diesen realen Rand im Atelier schnell wegräumt und sich selber auch nur eine Erinnerung daran zugesteht. Sein Atelier ist ein ungewöhnlich sauberes und aufgeräumtes.
Greift man für die Bilder von Rolf Gerhards zur Metapher des Gartens, dann bildet eine Ausstellung eine Landschaft, in der sich die Gärten befinden. Es ist eine Eigenschaft seiner Bilder, zwar durchaus als Einzelwerke zu bestehen und wirksam zu sein, in Gruppen oder gar in einer Ausstellung aber einen Bedeutungszuwachs zu erfahren. Dieser entsteht dadurch, dass Gerhards‘ Malereien, wie oben beschrieben, so aussehen, als seien sie eher aus sich selber, wie in einem Naturvorgang entstanden, und als hätten sie ihren Maler als Autor nur marginal nötig.
Eine Bildergruppe von Gerhards zeigt nicht Variationen und Weiterentwicklungen eines Bildschemas, einer Bildidee, sondern lässt Teile einer zusammenhängenden imaginierten Landschaft aufscheinen, die mehr ist als die benennbaren topografischen Ansichten der Einzelbilder. Selbst wenn man im Laufe der Zeit eine Entwicklung seiner Malerei erkennen kann, so beziehen sich die Werke alle durchgehend auf diese Landschaft hinter der Landschaft.
Deshalb haben Rolf Gerhards‘ Bildformate auch etwas von architektonischen Fenstern, besonders bei mehrteiligen Bildern und vor allem in Ausstellungen, deren Räume er gleichsam mit Fenstern in seine imaginierte Landschaft bestückt. (Allerdings meint mein Vergleich mit Fenstern nicht, dass wir „durch die Wand“ sehen könnten, denn wir blicken vielmehr mit jedem Gemälde zurück auf unsere Augen(fenster) und in unsere Vorstellungswelt hinein.) Gerhards hebt mit seiner Malerei wirklich etwas von verlorenen Funktionen der Architektur auf. Da genügt ein Blick darauf, wie er im Atelier die Keilrahmen nebeneinander stellt, aufhängt und auch sorgfältig ins Lagerregal stellt, sie damit zur Ruhe bringt.
Die „Landschaft“ in Rolf Gerhards‘ Bildern zeigt noch eine weitere Widersetzlichkeit gegen die gedankenlose Akzeptanz des gegenwärtigen Zustands der Kunst. Ich glaube, es existieren mehrere Modi, die bestimmen, wie wir uns einem gemalten Bild gegenüber verhalten. Einer davon ist die „Landschaft“.
Die anderen sind: der „Körper“, also ein abgeschlossenes Objekt mit Hintergrund, das „Stillleben“, also eine Gruppe von Dingen, die uns zuhanden und beliebig zueinander positionierbar sind, und die „Schautafel“, also eine Fläche, auf der alles Mögliche in unterschiedlichen Kombinationen versammelt wird. Ich vermute, dass heute die meiste Malerei offen oder verdeckt den Modus der Schautafel benutzt.
Rolf Gerhards hingegen malt „Landschaft“, in dem Sinne, dass unser Auge einem Horizont im Bild gegenübersteht und die Bildränder ein Kontinuum abschneiden, welches in alle Richtungen nach 360º wieder im Bild anlangt. Der Malgrund ist dann wirklich keine Schautafel, sondern die Bildfläche, die einen bedeutsamen Ausschnitt des Kontinuums vor Augen stellt. Dies korrespondiert mit dem Malen über den Bildrand hinaus und mit den Bildern im Ausstellungsraum, die alle mittels einer Landschaft einen Blick auf die Landschaft geben.
Wenn wir durch den Garten die Landschaft erfahren, erleben und verstehen wollen, dann liegt vieles ganz nah vor unseren Füßen und unseren Augen; es gibt aber auch den Zaun, den Bildrand rechts und links, oben und unten, und es gibt den Horizont, an dem fast unmerklich zwischen Himmel und Erde alle sichtbaren Dinge verschwinden.
Ich habe hier versucht, das Nahe zu sehen und zu verstehen. Das Ferne ist schwer zu greifen und das Verschwundene bleibt der Phantasie oder dem Nichts überlassen.